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27. November 2020
Strahlende Johanniskirche
Schwäbisch Gmünd (tm). Wechselnde Beleuchtungen an der Johanniskirche spiegeln die Geschichte wieder. Am Samstag, 28. November, beginnt die Beleuchtung am Hauptportal.
Kann man aus der Not eine Tugend machen? Ja, man kann! Wenn das Corona-Virus in diesem Jahr den Weihnachtsmarkt auch aus Gmünd vertrieben hat, so hat es zugleich die Johanniskirche freigestellt. Denn dieser den Gmündern ans Herz gewachsene Solitär der europäischen Sakralarchitektur mit dem schönsten Kirchturm Schwabens ist in diesem Jahr während der Adventszeit nicht eingebettet in Menschenmengen vor gemütlichen Glühwein-Buden. Die Passanten, die nach Einbruch der Dunkelheit über den Markt- und Johannisplatz und durch die Bocksgasse laufen, werden jetzt die Johanniskirche zum ersten Mal in einzigartiger Weise leuchten sehen. Die romanische Stauferbasilika aus der Zeit um 1220 ist im 15. Jahrhundert gotisiert und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder romanisiert worden. Dank der Lichtkunst der Firma Mixtown werden in den kommenden Wochen originale Skulpturen aus der Stauferzeit herausgehoben. Unsere Beschreibungen, die immer samstags vor den Adventsonntagen in der Tagespresse erscheinen, wollen zu entdeckendem Verweilen einladen und das Gesehene gedanklich vertiefen.
Teil I: Das Hauptportal
Wer sich vor den Haupteingang der Johanniskirche begibt, erblickt im Tympanon, dem halbkreisförmigen Bogenfeld über dem Portal aus dem frühen 13. Jahrhundert, eine Kreuzigungsgruppe. Wie in den romanischen Darstellungen üblich trägt der Gekreuzigte eine Krone. Der bärtige Gottessohn ist mit vier Nägeln ans Kreuz geschlagen, erscheint jedoch ohne besondere Betonung seines Leidens als siegreicher König. Die überproportional hohe herrscherliche Gestalt überdeckt fast vollständig den senkrechten Kreuzesbalken, vor dem sie mit weit ausgestreckten Armen zu stehen scheint. Die Seitenwunde sucht man auf dem Brustkorb vergeblich. Das leicht zur Seite geneigte Haupt mit seinen auf die Schultern fallenden dünnen Haarsträhnen strahlt eine majestätische Ruhe aus. Im Glanz des Scheinwerferlichts fühlt man sich an den Kreuzeshymnus des Venantius Fortunatus aus dem 6. Jahrhundert erinnert: „Der Königs Fahne schwebt empor, das Kreuz strahlt aus der Nacht hervor.“
Entsprechend dem Passionsbericht des Johannes stehen unter dem Kreuz Maria und Johannes, der Lieblingsjünger Jesu. Die Gottesmutter hat ihre Hände in Andachtshaltung vor der Brust gefaltet. Der Apostel hält in der linken Hand sein Evangelienbuch, mit seinem rechten Arm stützt er trauernd seinen Kopf. Die hier dargestellte Szene speist sich aber nicht nur aus der Heiligen Schrift, sondern auch noch aus einem zweiten Buch, das der romanische Bildhauer oder sein Auftraggeber bestimmt auswendig kannten. Es heißt „Der Physiologus“, übersetzt „Der Naturkundige“, und ist in der griechischen Originalfassung zwischen dem zweiten und dem vierten Jahrhundert im ägyptischen Alexandrien entstanden. Es handelt sich um eine theologisch-moralische Zoologie des spätantiken Christentums. Sie war hundertfach nicht nur im Orient verbreitet, sondern über ihre lateinischen Versionen auch im romanischen, germanischen und slawischen Mittelalter, ein Bestseller des Abendlandes. Schlagen wir zur Deutung der neben der Kreuzigungsgruppe als Flachreliefs gestalteten Bäume, in denen jeweils eine Taube wohnt, das Kapitel auf, in dem der Physiologus die Geschichte vom indischen Baum Peridexion, seinen süßen Früchten und den in ihm nistenden Tauben erzählt. Sie sind dort vor ihrem Feind, dem Drachen, sicher, denn dieser fürchtet den Baum. Entfernen sich die Tauben aber vom Baum, kann sie der Drache finden und tötet sie. Der Drache – hier auf jeder Seite am Fuß des Rundbogens ein drachenartiges zweibeiniges Untier, links mit Fischschwanz, rechts mit Vogelschwanz versehen – steht für den Teufel, und die Tauben vertreten uns Menschen, die der Teufel findet, wenn wir nicht beim Baum des Lebens – dem Kreuz – verbleiben.
Die Gläubigen des 13. Jahrhunderts wussten, dass sie durch das Kreuzportal hindurch ein Gotteshaus betraten, in dem eine Reliquie des heiligen Kreuzes aufbewahrt wurde. Diese hatte das Kloster Lorch an die mit ihr verbundene Johanniskirche weitergegeben. Sie stammte aus dem Reliquienschatz, den der Stauferkönig Konrad III., Gmünds Stadtgründer, vom Zweiten Kreuzzug seinem Kloster mitgebracht hatte, wo er gerne hätte bestattet werden wollen. Auf der Höhe der Kapitelle unterstreichen zwei Flachreliefs den Sieg des Gekreuzigten über Sünde und Tod. Links schießt ein Bogenschütze mit Vogelleib, Schlangenschwanz und Löwenfüßen gerade einen Pfeil ab; rechts rückt ein Kentaur mit Schild und Schwert an, das Mischwesen aus der griechischen Mythologie mit dem Kopf, dem Rumpf und den Armen eines Mannes und dem Körper und den Beinen eines Pferdes, das hier eine Sturmhaube auf dem Kopf trägt. Der Kentaur ist in der romanischen Kunst ein furchterregendes Bild für Teufel und Tod. Doch der Erlöser, so die Botschaft, wird auch die widernatürlichen Kreaturen des Bösen überwinden.
Die Johanniskirche ist in ihrem alten romanischen Bilderschmuck voller Physiologus-Bezüge. Man braucht sich nur das Rundbogenfries anzuschauen, das über dem Hauptportal verläuft. Viele dort gezeigte Tiere wie Panther, Hirsch, Wiesel, Schlange oder Ibis und Pfau stellen aufgrund der ihnen zugeschriebenen Eigenschaften Verbindungen zur christlichen Tugendlehre her. Unter diesem Rundbogenfries wird auch eine Figurenfolge mit einem Jäger, zwei Hunden und einem Hirsch ins Licht gerückt. Das Jagdmotiv findet sich häufig unter den Symbolen romanischer Kirchen. Es veranschaulicht den Kampf zwischen den Mächten des Lichtes und der Finsternis. Die Jagd bleibt aber mehrdeutig, denn ihr Sinn hängt davon ab, welchen Mächten die Jagenden und die Gejagten zugeordnet werden. Die Szene an der Fassade der Johanniskirche könnte in Übernahme eines Kommentars aus dem 12. Jahrhundert als Bild für die Bekehrung der Sünder verstanden werden, wobei Jäger und Jagdhund die Aufgabe zufällt, Bußpredigern gleich die Sünder wieder einzufangen. Mit der Geschichte von der Wiederauffindung des verlorenen Eherings der Herzogin Agnes im Geweih eines Hirsches, die später als legendarische Begründung für den Bau der Johanniskirche propagiert wurde, hat sie nichts zu tun.
Weitere Informationen zu der vierteiligen Beleuchtungsserie: Leuchtende Johanniskirche