Anlässlich der 850-Jahr-Feier der Stadt Schwäbisch Gmünd im Jahr 2012 entstand eine Open-Air-Ausstellung mit 22 Tafeln zur Stadtgeschichte.
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Die Revision zum Spruchkammerverfahren von Alfred Dizinger
Von DÖRNE | Stand: 2. April 2019 | Lizenz: CC BY
Um die deutsche Bevölkerung vollständig von der Ideologie des Nationalsozialismus zu befreien und Vergehen während der NS-Zeit zu sühnen, wurden seit März 1946 in den drei westlichen Besatzungszonen Millionen Spruchkammerverfahren durchgeführt. Eine erste Maßnahme zur Entnazifizierung, die bereits unmittelbar nach Besetzung deutscher Städte und Orte durch die Alliierten durchgeführt wurde, war die Entlassung aller NSDAP-Mitglieder aus den Kommunal- und Landesverwaltungen. Einer dieser entlassenen Beamten war der Schwäbisch Gmünder Polizist Alfred Dizinger. Er hatte sich in der NS-Zeit einige schwerwiegende Verbrechen zu Schulden kommen lassen und wurde in einem ersten Spruchkammerverfahren zunächst der Gruppe der „Hauptschuldigen“ zugeordnet und zur Leistung von Sühnemaßnahmen verurteilt. Hiergegen legte Dizinger erfolgreich Revision ein, wodurch er in die Gruppe der „Belasteten“ umgegliedert wurde.
1. Historischer Kontext
Nachdem die Stadt Schwäbisch Gmünd am Nachmittag des 20. April 1945 kampflos den Amerikanern übergeben worden war, endete in Schwäbisch Gmünd die NS-Diktatur und der Zweite Weltkrieg. Die Amerikaner führten in der Folge – nach einer ersten Sicherstellung der öffentlichen Ordnung – Verhaftungen von politisch belasteten Personen durch.
Die Entnazifizierung gehörte zu den wichtigsten Themen der deutschen Nachkriegspolitik und wurde von den vier Besatzungsmächten unterschiedlich ausgeführt: In der amerikanischen Besatzungszone und somit auch in Schwäbisch Gmünd wurde anfangs eine aggressive Entnazifizierungspolitik verfolgt. So wurden alle Beamten entlassen, die der NSDAP angehört hatten. Für Schwäbisch Gmünd bedeutete dies, dass die Hälfte aller Angestellten der städtischen Verwaltung entlassen werden musste. Die Aufgabe der Entnazifizierung war jedoch ein sehr umfassendes Projekt, da die Politik der NSDAP und ihrer unzähligen Organisationen jede Lebenslage beeinflusst hatte.
Die Amerikaner wollten eine vollständige Entnazifizierung durchführen, doch konnte dies aber nur gelingen, wenn das deutsche Volk selbst am Prozess beteiligt wurde. Mit dem Gesetz zur Befreiung vom Nationalismus und Militarismus vom 5. März 1946 wurde jeder Einwohner über 18 Jahren hinsichtlich seiner Aktivitäten im Dritten Reich mit einem 107 Fragen umfassenden Fragebogen befragt (LINK auf https://de.wikipedia.org/wiki/Gesetz_zur_Befreiung_von_Nationalsozialismus_und_Militarismus). Je nach Schwere ihrer Taten wurden alle volljährigen Deutschen in fünf verschiedene Gruppen eingeordnet, die mit jeweils unterschiedlichen Sühnemaßnahmen verknüpft waren: Gruppe 1: Hauptschuldige, Gruppe 2: Belastete, Gruppe 3: Minderbelastete, Gruppe 4: Mitläufer sowie Gruppe 5: Entlastete.
Die Gerichtsbarkeit übernahm dabei Schwurgerichte unter Aufsicht der Besatzungsmächte, die von unbelasteten Deutschen geleitet wurden. Die Amerikaner hatten das Recht, jede deutsche Entscheidung zu verändern. Außerdem hatte jeder Angeklagte die Möglichkeit, gegen einen Beschluss Revision einzulegen.
In den jeweiligen Gemeinden wurden nach Abschluss aller Spruchkammerverfahren Listen erstellt, die sich an den fünf Gruppen orientierten und für einen bestimmten Zeitraum öffentlich ausgehangen wurden. Der ganze Prozess der Entnazifizierung geriet aber mit dem beginnenden Konflikt mit der UdSSR in den Hintergrund. So war es am Ende nicht unüblich, dass die zu Beginn der Spruchkammerverfahren gefällten Urteile in späteren Berufungsverfahren teils erheblich abgemildert wurden.
2. Das Berufungsverfahren von Alfred Dizinger
Die Schwurgerichtsakten dieser Prozesse sind im Staatsarchiv Ludwigsburg überliefert; allein der dortige Bestand zu den Gmünder Spruchkammerverfahren umfassend 18.000 Akten, die aneinandergereiht rd. 41 laufende Regalmeter ergeben (LINK auf http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=2-7151&a=fb). Im Stadtarchiv von Schwäbisch Gmünd sind hingegen lediglich Abschriften der Sprüche überliefert, da die Stadt die Leistung der Sühnemaßnahmen und die Einhaltung von bürgerlichen Ehrstrafen wie den Verlust des aktiven und passiven Wahlrechts zu überwachen hatte.
In Schwäbisch Gmünd lebten im Jahr 1946 ca. 30.000 Menschen. 1948, nach Abschluss der Spruchkammerverfahren, waren lediglich acht Gmünder in die Gruppe der Hauptschuldigen eingeordnet. Im Nachgang wurde diese Liste der Hauptschuldigen durch erfolgreiche Berufungsverfahren der Betroffenen um fünf Personen reduziert, sodass lediglich drei Hauptschuldige übrigblieben (ABBILDUNG: 2019-04-02_06_Schwäbisch Gmünd, StadtA, A17.01 Bü 68). Die Listen zu den übrigen Gruppen sind deutlich umfassender: Die meisten Einwohner Gmünds wurden als Mitläufer oder Entlastende einsortiert. Einer, der zunächst als Hauptschuldiger verurteilt worden war, war der am 4. November 1902 geborene Alfred Dizinger, der während des Krieges als Polizeimeister in Wasseralfingen tätig war und später nach Schwäbisch Gmünd umzog. Er legte jedoch gegen dieses erste Urteil vom 7. November 1947 Berufung ein.
Im Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd hat sich dazu eine Abschrift der Urteilsbegründung zu seinem Berufungsverfahren vom 24. September 1948 überliefert (5 ABBILDUNG: 2019-04-02_06_02_Schwäbisch Gmünd, StadtA, A17.01 Bü 69 bis 2019-04-02_06_06_Schwäbisch Gmünd, StadtA, A17.01 Bü 69). Für die Berufungskammer war der im Abschnitt II.c. angeführte Anklagepunkt der Maria Angstberger gegen Dizinger von entscheidender Bedeutung. Die 16jährige Maria Angstberger wurde am 6. Januar 1944 verhaftet, nachdem sie ein Kind, vermutlich von einem Polen, geboren hatte. Sie wurde nach Dizingers Bericht zur Gestapo nach Stuttgart vorgeladen und von dort aus ins KZ Ravensbrück verlegt, wo sie in der Folge umgebracht wurde. Das Berufungsgericht erkannte an, dass sich Dizinger in einer gewissen Zwangslage befunden habe. Er habe diesen Fall bearbeiten müssen, da sein Beruf und bestehende Anweisungen dieses verlangten. Dennoch habe er aus politischer Gegnerschaft gehandelt, da er in ähnlichen Fällen Milde habe walten lassen. Ihm waren die Praktiken des NS-Staates wohl bewusst und er kannte die Folgen für Frau Angstberger, sodass sich Alfred Dizinger in diesem Fall des Mordes der mittleren Täterschaft schuldig machte.
Auch in einem weiteren Anklagepunkt entschied die Berufungskammer zu Dinzingers Gunsten: die Kammer sah es nicht als erwiesen an, dass Dizinger für die Umlegung eines französischen Zwangsarbeiters ins KZ Dachau verantwortlich gewesen sei. Für das Gericht sei Dizinger zwar grundsätzlich weiter Hauptschuldiger, dennoch wurde eine Pflichtenkollision anerkannt und ihm angerechnet. Sein Schuldspruch wurde abgemildert und Dizinger fortan der Gruppe der Belastenden zugeordnet. Aufgrund dieses neuen Spruchs wurden auch die von ihm zu leistenden Sühnemaßnahmen gemildert. Dizingers Arbeitslagerzeit wurde auf 4 ½ Jahre reduziert. Alle anderen Sühnemaßnahmen – Verlust des Wahlrechtes und Zahlungen in den Wiedergutmachungsfonds – blieben bestehen. Am 31. Juli 1949 wurde die Haftstrafe aufgrund eines erfolgreichen Gnadengesuchs vorzeitigt beendet und der Rest zur Bewährung ausgesetzt.
3. Quellen und Literatur
- Schwäbisch Gmünd, StadtA, A17.01 Bü 68.
- Schwäbisch Gmünd, StadtA, A17.01 Bü 69.
- FINGER, Jürgen / KELLER, Sven / WIRSCHING, Andreas (Hgg.): Vom Recht zur Geschichte. Akten aus NS-Prozessen als Quellen der Zeitgeschichte, Göttingen 2009.
- FÜRSTENAU, Justus: Entnazifizierung. Ein Kapitel deutscher Nachkriegspolitik (Politica 40), Berlin/Neuwied 1969.
- KAMM, Bertold / MEYER, Wolfgang: Der Befreiungsminister. Gottlob Kamm und die Entnazifizierung in Württemberg-Baden, Tübingen 2005.
- MÜLLER, Christian: US-Truppen und Sowjetarmee in Deutschland. Erfahrungen, Beziehungen, Konflikte im Vergleich (Krieg in der Geschichte 70), Paderborn u.a. 2011.