Grafeneck

Albert Deibele und seine Kriegschroniken: Das Beispiel Grafeneck
Von Bettina BONHARD und Alexandra FREUDL | Stand: 2. April 2019 | Lizenz: CC BY

1. Albert Deibele und seine Gmünder Kriegschroniken
Der Gmünder Heimatforscher und Stadtarchivar Albert Deibele wurde 1889 in Oeffingen bei Fellbach geboren und verstarb 1972 in Schwäbisch Gmünd. Er studierte Pädagogik mit den Hauptfächern Botanik und Erdkunde an der Universität Tübingen. Ab 1905 absolvierte er am Gmünder Seminar die Ausbildung zum Lehrer und trat dort 1920 eine Stelle als Oberlehrer an. Deibele gilt als der Begründer des heutigen Stadtarchivs in Schwäbisch Gmünd, das er von 1930 bis 1970 leitete und welches sich unter seiner Leitung zu einem Knotenpunkt der Stadtgeschichte entwickelte. Deibele wurde dadurch auch selbst zu einer herausragenden Persönlichkeit der Gmünder Stadtgeschichte, welche er leidenschaftlich erforschte und in zahlreichen Veröffentlichungen einem breiten Publikum näher brachte.
Albert Deibele war ein Idealist, der seinen Mitmenschen viel Ernst, Fleiß und Erfolg abforderte, sie aber auch zum Mitdenken und zur Zivilcourage bewegen wollte. Er legte Wert auf wissenschaftliche Arbeitsmethoden, mischte sich aber auch selbst unters Volk und ließ Zeitzeugen zu Wort kommen – ein frühes Beispiel für die Oral History, die seit nunmehr drei Dekaden zum festen Methodenrepertoire von Historikern gehört. So wollte er auf seine eigene Art und Weise Geschichte(n) erzählen und erlebbar machen und betonte dabei stets die hohe kulturelle Bedeutung jener Stadt, die ihm zu einer liebgewonnenen zweiten Heimat geworden war.
Seit 1930 widmete sich Deibele der Neuordnung und dem Neuaufbau des Stadtarchivs, das 1939 in der ehemaligen Mädchenrealschule am Münsterplatz sein endgültiges Domizil fand. Auch während der Zeit des Dritten Reichs, die er selbst als eine harte und grausame Zeit der Enge und Heimlichkeiten bezeichnete, setzte sich Deibele für den Schutz und Erhalt des kulturellen Erbes der Stadt ein.
Von 1937 bis 1945 schrieb er seine Gmünder Kriegschroniken, welche durch die handgeschriebene, mehrbändige Stadtchronik des Dominikus Debler aus dem frühen 19. Jahrhundert maßgeblich inspiriert wurden. Debler hielt in seiner damaligen Chronik nicht nur das aktuelle Zeitgeschehen fest, sondern wies auch regelmäßig auf besondere städtische Traditionen und ihre Geschichte hin. Die genaue Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte von Deibeles Kriegschroniken, einem Sammelsurium an persönlichen Beobachtungen und Notizen, welche er selbst auch als Tagebucheinträge bezeichnete, ist bislang noch nicht näher bekannt. Erhalten geblieben ist ein mehrbändiges, schreibmaschinengeschriebenes Werk, das der Autor wohl um das Jahr 1970 noch einmal überarbeitete. Albert Deibele, der unter Beobachtung des NS-Regimes stand, bekundete immer wieder, dass seine Kriegschroniken einst unter Lebensgefahr geschrieben, immer wieder verborgen und versteckt und so abgefasst worden seien, dass immer noch eine Ausrede möglich gewesen sei. Er war sich sicher: Wären seine Aufzeichnungen der NSDAP in die Hände gefallen, hätte dies für ihn schwerwiegende Konsequenzen gehabt.

2. Das NS-Euthanasieprogramm in Grafeneck im Spiegel der Kriegschroniken
Deibele berichtete in Einträgen, die sich mit Unterbrechungen von 1940 bis 1945 erstrecken, auch von Geschehnissen rund um die Aktion T4 und die Tötungsanstalt Grafeneck auf der Schwäbischen Alb. Er verfügte über ein solides soziales Netzwerk und bezog seine Eindrücke aus den Schilderungen kirchlicher Einrichtungen und dem Gmünder Stadtgespräch. Seit Sommer 1939 planten die Nationalsozialisten die systematische Ermordung von psychisch kranken und geistig behinderten Menschen. Da die diesbezügliche Organisation und zentrale Dienststelle in der Tiergartenstraße 4 in Berlin untergebracht war, wurde dieser Vorgang Aktion T4 genannt. Auf dem Gelände des ehemaligen Jagdschlosses Grafeneck, in welchem seit 1928 ein Heim für behinderte Männer eingerichtet war, befand sich eine von insgesamt sechs Tötungsanstalten im Gebiet des Deutschen Reiches. Am 14. August 1940 beschrieb Deibele diesen Ort wie folgt:
„Dort ist ein weites Gebiet der staa[t]lichen Domäne mit einem grossen Bretterzaun umgeben. Dieser Zaun wird von SS-Leuten bewacht, ferner kreisen (...) [darum] ständig grosse Hunde, die jede Annäherung unmöglich machen. Innerhalb des Zaunes sind Baracken. Dort werden die Kranken untergebracht. Der Zug hält auf freier Strecke. Die Kranken werden herausgenommen, kommen in die Baracken, erhalten dort eine Spritze, von der sie nie wieder erwachen. Die Leichen werden sofort verbrannt. Man hat innerhalb des Lagers einen Leichenverbrennungsofen errichtet. Dieser Ofen rauche Tag und Nacht. Nach der Verbrennung erhalten die Angehörige[n] ein Schreiben, dass der Betreffende gestorben sei. Seine Asche könne auf Wunsch von einer Parteistelle (...) angefordert werden.“
Etwa 10.000 Insassen aus Heil- oder Pflegeanstalten in ganz Süddeutschland, darunter auch Opfer aus Schwäbisch Gmünd, wurden nach Grafeneck deportiert und fanden dort einen schrecklichen Tod. Die Morde sollten geheim gehalten werden, die Angehörigen wurden erst im Nachhinein über die Verlegung und die Krankheit, die angeblich zum Tod geführt haben sollte, benachrichtigt. Die zügige Einäscherung der Leichen begründeten die Behörden mit der angeblich notwendigen Prävention von Seuchenverbreitung.
Albert Deibele betonte in seinen Einträgen immer wieder, dass er nur kursierende Gerüchte aufgreife und sich einer eigenen Stellungnahme enthalte. Durch die gezielte, wiederholte Befragung der Oberin von St. Josef, der bis heute im Betrieb befindlichen Schule für Hörgeschädigte wurde er jedoch ab dem 21. November 1940 auch selbst initiativ:
„Es sind hier in der Stadt schon Gerüchte umgegangen, ich selbst habe sie hier vermerkt, dass in St. Josef schon ein Verzeichnis aufgenom[m]en worden sei von den Personen, welche für Grafene[ck] bestimmt sind. (...) Um mir Gewissheit zu verschaffen, habe ich mich an die Oberin in St. Josef selbst gewandt. Sie wollte mir anfänglich nichts erzählen, da es ihr streng verboten worden war, über diese Angelegenheit auch nur das mindeste zu sagen. Doch brachte ich schliesslich alles heraus und erzähle es in diesen Blättern (...) damit die Nachwelt die Wahrheit erfährt und gleichzeitig auch Kunde davon erhält (...).“
Am 4. Januar 1941 berichtete Deibele weiter:
„(...) [Zwei Ärzte aus Stuttgart] sollten (...) Mitte November [1940] die Zöglinge von St. Josef untersuchen, ob sie für Grafeneck reif seien. Die Kinder seien [jedoch von den betreuenden Schwestern bewusst] mit dem 1 Uhr-Zug in die Heimat geschickt worden und keine halbe Stunde später hätten sich die Herren gemeldet.“
Albert Deibele gelangte auch an einen Brief, welcher von einer nach Grafeneck zu deportierenden, epilepsiekranken Heimbewohnerin in Liebenau/Bodensee, kurz vor ihrem Tod, an ihren Vater in Schramberg/Schwarzwald verfasst wurde und fügte diesen seinen Kriegschroniken bei. Obwohl sich die tief gläubige Frau bereits ihres Todes bewusst war, sah sie sich als Märtyrerin und gab sich tapfer und hoffnungsvoll:
„Liebenau, den 1. Okt. 1940.
Innigstgeliebter Vater!
Leider ging es nicht anders. Meine Abschiedsworte aus diesem irdischen Leben in die ewige Heimat muß ich also heute an Dich richten. Es wird Dir und den meinen viel Herzweh bereiten. Aber denke daran, daß ich als Martyrin sterben darf, was nicht ohne den Willen meines göttlichen Erlösers geschieht, nach welchem ich mich jahrelang sehnte. Vater, guter Vater, ich möchte aber nicht von hinnen scheiden, ohne Dich und all meine lieben Geschwister nochmals um Verzeihung zu bitten für das, was ich mein ganzes Leben hindurch an Euch gefehlt habe. Möge der liebe Gott meine Krankheit und dieses Opfer als Sühne annehmen dafür. Bester Vater, bitte trage Deinem Kinde, welches Dich so innig geliebt hat, nichts nach und denke immer und immer wieder, es geht in den Himmel, wo wir uns alle wiederfinden bei Gott und unsern lieben Verstorbenen allen. Vaterle, ich geh mit festem Mut und Gottvertrauen und zweifle niemals an seiner guten Tat, welche er an uns ausübt, welche wir leider jetzt hienieder nicht verstehen. Uns wird der Lohn zuteil am Jüngsten Tage. Gott befohlen! Bitte teile es meinen lieben Geschwistern mit. Ich will nicht jammern, sondern mich vielmehr freuen. Dieses Bildchen gehe ich Dir als Andenken, so geht Dein Kind dem Heiland entgegen. Es umarmt Dich in treuer Liebe und mit dem festen Versprechen, welches ich Dir gab bei unserm letzten Abschied, daß ich standhaft ausharren werde. Dein Kind ….. Bete viel für meine Seelenruhe.
Auf Wiedersehen guter Vater im Himmel.“
Angesichts der zunehmenden Ausweitung der Opfergruppen, ihrer zweifelhaften Verlegung nach Grafeneck und den dubiosen Todesumständen herrschten in der Gmünder Bevölkerung Aufregung und Angst, aber auch im religiösen Glauben begründeter Unwille und Empörung vor. Dies spiegelt auch die Todesanzeige von Martha Decker deutlich wider:

Quelle 4: (Todesanzeige Martha Decker): Scan aus den Kriegschroniken.

Im Dezember 1940 wurde das Tötungslager Grafeneck geschlossen. Zunehmende Wahrnehmung und Kenntnisnahme innerhalb der regionalen Bevölkerung hatten maßgeblich zu diesem Schritt beigetragen. Die Verübung der Verbrechen wurde jedoch im hessischen Hadamar fortgeführt.
Im Rahmen der Aktion T4 wurden in Grafeneck insgesamt zehn Stadtbürger aus Schwäbisch Gmünd ermordet (Stand 2018).

Weiterführende Literatur:
• Debler, Werner H.A.: Albert Deibele. In: Literarische Vielfalt in Ostwürttemberg. Heimatforscher aus dem Raum Schwäbisch Gmünd. (= Lauterner Schriften. Bd. 14). Schwäbisch Gmünd 2009. S. 61–72
• Müller, Ulrich: Schwäbisch Gmünd unterm Hakenkreuz. Schwäbisch Gmünd 22018.
• Stöckle, Thomas: Grafeneck 1940. Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland. Tübingen ³2012.

ZUM BILD